Social TV: Mehr oder weniger Aufmerksamkeit fürs Fernsehen? Gastkommentar von Prof. Dr. Claus Sattler bei kress.de

Social TV ermöglicht es Fernsehzuschauern, sich über Smartphones oder Tablets parallel zu Fernsehsendungen auszutauschen. Die Anzahl der Nutzer wie auch der Kommentare ist teilweise schon beträchtlich. Was bedeutet dieser Trend für die TV-Sender?

Prof. Dr. Claus Sattler

Als sich in den achtziger Jahren die E-Mail verbreitete, titelte eine wissenschaftliche Zeitschrift: „You have 400 e-mails! Do you want to read them now?“. Der Autor sorgte sich um die drohende Überflutung mit Informationen.

Mittlerweile haben wir uns daran gewöhnt, nach einigen Urlaubstagen ohne Mailzugang tatsächlich mehrere hundert Mails in unseren privaten und dienstlichen Postfächern vorzufinden und das meiste ungelesen wegzudrücken. Von den verpassten Facebook-Posts und Tweets ganz zu schweigen.

Doch die Entwicklung geht weiter: Heute nutzen bereits unglaubliche 77 Prozent der Deutschen parallel zum TV das Internet (Studie Bitkom/Goldmedia, 2012).  Nicht nur E-mails, sondern Zusatzinformationen zum Programm sowie soziale Netzwerke sind die wichtigsten Aktivitäten und Anlaufstellen beim Fernsehen. TV wird langsam „social“.

Eine Armada von speziellen Social TV-Apps, aber auch Twitter und Facebook selbst ermöglichen es, aktuelle Fernsehsendungen parallel zu kommentieren.

Das hat gerade bei TV-Events den Vorteil, dass es am sinnvollsten ist, sich darüber auszutauschen, wenn man auch wirklich eine Sendung gleichzeitig (live) sieht. Ein Hoffnungsschimmer für die Fernsehveranstalter, denen ja schon oft die baldige Totalverweigerung der Jugendlichen für das klassische TV-Programm prognostiziert wird.

Das Phänomen Social TV ist keine Nischenerscheinung. So hatte die Sendung „Berlin – Tag & Nacht“ (RTL2) bei insgesamt ca. 1,9 Mio. Facebook-Fans innerhalb einer Woche (KW 25) ca. 280.000 Aktivitäten – sprich: neue Fans, Kommentare und Likes – erzeugt. Die Sportschau (ARD) hatte ca. 370.000 Fans mit ca. 25.000 Aktivitäten im gleichen Zeitraum (Goldmedia Social TV Monitor, Juni 2012).

Noch eindrucksvoller ist eine Zahl, die von der Social TV-App Couchfunk vermeldet wurde: ca. 37.000 spambereinigte Kommentare in den fünf Stunden des European Song Contest 2012 in Baku, das sind mehr als 120 pro Minute.

Den Nutzern macht es offensichtlich Spaß, TV-Sendungen kritisch und humorvoll zu begleiten.

Versucht man, die Kommentare einiger Sendungen wie z.B. die der EURO 2012 oder auch einiger Talkshows auf Couchfunk zu verfolgen, erwischt man sich schnell dabei, dass die Aufmerksamkeit für die Fernsehsendung rapide sinkt. Das geht sicher nicht so weit, dass man ein Tor erst über die Social TV App wahrnimmt, aber der Ablenkungsfaktor ist beträchtlich. Hinzu kommt, dass viele Kommentare, insbesondere bei Talkshows, noch unterhalb des Niveaus des Boulevardjournalismus liegen und teilweise bis zu persönlichen Beleidigungen gehen.

Bei Social TV haben wir es mit einer Überflutung in zweierlei Hinsicht zu tun: Zum einen ist es die schiere Masse an Kommentaren, die von der ehemaligen Hauptsache, der Fernsehsendung, ablenkt. Kommentieren kann ja hierbei jeder Fernsehzuschauer. Zum Anderen geht es um die Überflutung mit Kommentaren, die den eigenen Ansprüchen nicht entsprechen.

Eine Begrenzung oder Filterung der angezeigten Kommentare auf die eigenen Freunde ist dringend nötig, wird aber auch nur zum Teil eine Lösung sein, da vielleicht nur wenige meiner Freunde die gleiche Sendung sehen. Viel mehr noch schränkt eine derartige Begrenzung jedoch die Möglichkeit ein, interessante Anmerkungen zur Sendung von Leuten zu erhalten, die man gar nicht kennt. Auch das Anlegen sogenannter weißer und schwarzer Listen – also Listen von Personen, von denen Kommentare angezeigt oder nicht angezeigt werden sollen – hilft hier nur bedingt weiter.

Bei den Social TV-Aktivitäten auf Facebook tritt der Live-Charakter eher in den Hintergrund. Man redet hier über das Fernsehen auch außerhalb der Sendezeiten. Die Intensität ist jedoch hoch: Auf Facebook wurden von Fans in Deutschland mittlerweile fast 20 Mio. Likes nur für TV-Sender und/oder TV-Sendungen vergeben.

Die im Social TV Monitor ausgewerteten Facebook-Seiten der Sendungen lassen fünf verschiedene Konzepte erkennen: Die einfachste Form ist eine reine Ankündigung mit Programmhinweisen oder programmbegleitenden Informationen. Dieses Konzept fahren auch die Nachrichtensendungen (z.B. „ZDFheute“, „RTL Aktuell“), erweitert um zusätzliche Nachrichten (zweites Konzept). Eine dritte Gruppe bilden Sendungs-Seiten mit einem Fokus auf Diskussion und Kommunikation (z.B. „Galileo“, „Sat.1 Frühstücksfernsehen“). Daneben gibt es das Konzept der vertikalen Showverlängerung (z.B. „GZSZ“), etwa durch den Blick hinter die Kulissen.

Ein höchst erfolgreiches Konzept ist die horizontale Showverlängerung (z.B. „Berlin – Tag & Nacht“). Hier wird die Show Teil der sozialen Realität des Zuschauers. Die Facebook-Präsenz verlässt dabei die Metaebene der Betrachtung und begreift sich als dramaturgischer Teil der Show. Ähnlich wie Statusmeldungen von Freunden sehen die Fans Nachrichten der Show-Charaktere in ihren privaten Streams und fördern in besonderer Weise eine parasoziale Interaktion mit den Charakteren der Darsteller. Der Sender übergibt mit diesem Konzept einen großen Anteil von Aufmerksamkeit der Sendungsfans an Facebook, welches in erster Linie davon profitiert. Andererseits sind die Quoten der Sendung so deutlich über dem Senderschnitt von RTL2, dass durch die Webeeinnahmen auch der Sender profitiert. Ob nun Facebook oder die Sendung selbst der Schlüssel zum Erfolg ist, lässt sich nicht zweifelsfrei sagen. Wahrscheinlicher ist ein Interaktionseffekt aus beiden Elementen, der bei dieser speziellen Zielgruppe perfekt funktioniert.

Social TV befindet sich noch in einer frühen Phase. Die Nutzerzahlen und die Anzahl derer, die Kommentare schreiben, sind aber bereits gewaltig und werden vermutlich noch weiter ansteigen. Aber bereits jetzt wird das Problem der Überflutung mit Kommentaren deutlich, intelligente Filter sind daher dringend nötig. Es wird interessant sein, welche Lösungsoptionen uns die Anbieter von Social TV-Apps zukünftig präsentieren werden.

Für die TV-Sender stellt sich die Frage nach Pest oder Cholera: Werden sie zum „Hintergrundrauschen“ für die Social TV-Chats ihrer Zuschauer oder können sie die zum Teil gewaltige Fan-Basis für ihre Formate erfolgreich nutzen und in Zukunft auch kapitalisieren?

Prof. Dr. Claus Sattler, Geschäftsführer Goldmedia Innovation GmbH

Dr. Florian Kerkau, Geschäftsführer Goldmedia Custom Research GmbH

Artikel erschienen bei kress.de

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