Die Leitfunktion wandert in den Online-Bereich. Interview mit Prof. Dr. Gerhard Vowe, Kommunikations- und Medienwissenschaftler, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, promedia Juli 2012

Die Online-Angebote geben zunehmend den Ton in der gesellschaftlichen Kommunikation an

„Die Leitfunktion wandert in den Online-Bereich“

Interview mit Prof. Dr. Gerhard Vowe, Kommunikations- und Medienwissenschaftler, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Prof. Dr. Gerhard Vowe
Prof. Dr. Gerhard Vowe

Deutsche und Schweizer Kommunikationswissenschaftler gehen seit April 2011 der Frage nach, wie sich die öffentliche Kommunikation zwischen Bürgern, politischen Organisationen und Medien durch die Online-Medien verändert. Die Wissenschaftlergruppe unter der Leitung von Prof. Dr. Gerhard Vowe untersucht dabei, welcher politische Einfluss welchen Online-Medien von wem unterstellt wird, auf welche Ursachen dies zurückzuführen ist und welche Konsequenzen sich für politische Vorstellungen, Einstellungen und Verhaltensweisen ergeben.

promedia: Herr Vowe, welche Konsequenzen wird der digitale Wandel für die gesellschaftliche Information und Kommunikation haben?
Gerhard Vowe: Fundamentale Konsequenzen. Die traditionellen Grenzziehungen in der gesellschaftlichen Kommunikation werden obsolet im Zuge der Digitalisierung. Denn Massenkommunikation, Gruppenkommunikation, interpersonale Kommunikation und Computerkommunikation lassen sich nicht mehr so sauber trennen, wie wir es gewohnt sind. Das Stichwort dafür ist Konvergenz: In der Online-Welt werden hybride Kombinationen dieser traditionell stark getrennten Kommunikationsformen möglich. Diese Möglichkeiten werden allerdings sehr unterschiedlich von den einzelnen Gruppen aufgegriffen und in ihr Kommunikationsverhalten übersetzt. Und es ergeben sich auch Unterschiede zwischen gesellschaftlichen Kommunikationsbereichen, z.B. zwischen Wirtschaftskommunikation und politischer Kommunikation. Die Wirtschaftskommunikation ändert sich sehr viel schneller. Dennoch: Insgesamt geben die internetbasierten Formen zunehmend mehr den Ton an in der gesellschaftlichen Kommunikation.

promedia: Wie wird sich die politische Kommunikation verändern?
Gerhard Vowe: Dreh und Angelpunkt für die politische Kommunikation ist das Kommunikationsverhalten der Menschen. Für einen großen Teil der Bevölkerung ist politische Kommunikation nachrangig, ein „Low Cost“-Bereich, in den nicht viel Aufmerksamkeit investiert wird. Andere Themen sind sehr viel interessanter und wichtiger. Daran ändern auch die durch das Internet rasant gesunkenen Kosten für Information, Kommunikation und Transaktion nicht allzu viel. Und auch ein großer Teil derjenigen, die politisch stärker interessiert sind, werden ihre gewohnten Verhaltensweisen nicht großartig verändern. Sie bleiben bei ihren herkömmlichen Medien und ihren herkömmlichen Arten, ihre Meinung öffentlich kund zu tun, um Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen. Aber es bildet sich eine neue Bevölkerungsgruppe heraus, die bereits in einer digitalen Welt aufgewachsen ist und mit den Möglichkeiten vertraut ist. Die müssen auch in politischer Hinsicht nicht von Offline auf Online umstellen, die sind an Online-Kommunikation gewöhnt und nehmen Innovationsschübe positiv auf. Wenn die sich politisch artikulieren und informieren, dann tun sie dies mit Hilfe von Online-Medien. Diese Gruppe sorgt für die Veränderung der politischen Kommunikation, und sie tut es umso mehr, je mehr sie in verantwortliche Positionen hineinwächst. Diese Gruppe kann man ziemlich genau umreißen, es ist etwa 1/6 der Bevölkerung, also schon etliche Millionen. Dieser Veränderungsschub im Verhalten sorgt dann wiederum für Veränderungen der politischen Organisationen und der Institutionen – nicht erst, seit diese Gruppe mit der Piraten-Partei im politischen System angekommen ist.

promedia: Will die Bevölkerung in ihrer Mehrheit überhaupt überall mitreden und mitentscheiden?
Gerhard Vowe: Jain! Richtig ist: Die schweigende Mehrheit bleibt die schweigende Mehrheit. Sie kann nur ab und zu in Teilen mobilisiert werden, z. B. bei nationalen Wahlen. Aber es bildet sich wie gesagt ein neues Elitensegment heraus, das vehement Mitsprache und Änderung im Politikstil einfordert. Und dies bleibt nicht ohne Folgen für die politischen Entscheidungen, z.B. im Hinblick auf eine Kandidatenkür oder die Transparenz von Entscheidungsprozessen.

promedia: Wie müssen Parteien und gesellschaftliche Institutionen oder Organisationen darauf reagieren?
Gerhard Vowe: Sie müssen sich vor allem auf größere Volatilität der Bürger einstellen. Die Bindungen der Bürger an etablierte Organisationen, ob Parteien, Verbände oder staatliche Instanzen, lockern sich weiter. Die Amplituden der Ausschläge in der Wählergunst werden größer. Da kann es auch schon einmal zu Sprüngen im zweistelligen Bereich kommen, wie wir es in den letzten Jahren erlebt haben. Die Organisationen müssen also flexibler werden, zugleich dürfen sie ihre Identität nicht verlieren, nicht zuletzt deshalb, um diejenigen weiterhin zu binden, die ihnen traditionell stark verbunden sind. Das ist alles andere als einfach.

promedia: Wie weit werden die klassischen Medien wie Zeitungen oder Fernsehen ihre Rolle verlieren?
Gerhard Vowe: Die traditionellen Medienanbieter müssen doppelt fahren: Ökonomisch und publizistisch sind die klassischen Angebote nach wie vor von großer Bedeutung. Denken Sie an die Reichweite der großen TV-Vollprogramme oder an die Auflagen der großen Zeitungen – nicht zuletzt der BILD-Zeitung. Und nach wie vor werden hier Themen gesetzt
und Meinungen beeinflusst. Aber ein großer Teil des Geschäfts und des publizistischen Einflusses wandert ins Netz und evtl. dann zu anderen Anbietern. Auch hier gilt es also, ein Zugleich von Flexibilität und Stabilität zu sichern, wie es ja z.B. zum Ausdruck kommt in einer Dachmarke wie „Spiegel“ oder „Tagesschau“, die dann sowohl im klassischen Medienbereich präsent ist wie auch (mit Namenszusätzen) im Online-Bereich. Dies ist in vielen Fällen durchaus von Erfolg gekrönt, selbst wenn sich dies über lange Strecken nicht rechnet und hier viel Lehrgeld bezahlt werden muss. Aber noch werfen die klassischen Angebote genug ab, um auch einige Experimente im Online-Bereich wagen zu können.

promedia: Wird es künftig noch ein Leitmedium geben?
Gerhard Vowe: Wenn Sie mit Leitmedien das Fernsehen oder die Tageszeitung meinen, dann ist die Antwort: Wir erleben derzeit, wie die Leitfunktion im Medienbereich in den Online-Bereich wandert. Die Online-Medien – von Nachrichtenseiten bis zu den sozialen Netzwerken – geben mittlerweile den Ton und den Takt an. Dies hat Auswirkungen auf die klassischen Medien: Auch die Tageszeitung wird hektischer, auch das Fernsehen wird hypertextueller. Wenn Sie mit Leitmedium aber ein einzelnes Angebot meinen, dann ist die Antwort: Durch die enorm gestiegene Fülle einzelner Angebote und die größere Heterogenität der Nutzung verliert das einzelne Medienangebot an Bedeutung. Insgesamt nehmen die Medien an Bedeutung für Politik zu, das einzelne Angebot aber verliert an Bedeutung. Es bilden sich neue Ausprägungen der Leitfunktion auch innerhalb des Mediensystems heraus. Politisch relevante Veränderungen sind nicht mehr ursächlich einzelnen Angeboten zuzurechnen.

promedia: Werden die Massenmedien ihre entscheidende Rolle für Information und Meinungsbildung einbüßen?
Gerhard Vowe: Weder die Massenmedien insgesamt noch ein einzelnes Massenmedium haben jemals die Macht besessen, die politische Meinungsbildung zu steuern. Sie haben allerdings die Meinungsbildung beeinflusst, also die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sich eine politische bestimmte Meinung bei einzelnen Zielgruppen oder in der Bevölkerung insgesamt herausbildet. Bei der Meinungsbildung spielten immer auch weitere Faktoren eine große Rolle, vor allem die zumeist fest verwurzelten Einstellungen der Menschen und die Kommunikation mit anderen, die einem mehr oder weniger nahe stehen. In einer Online-Welt verstärkt sich der Faktor der Kommunikation mit anderen, nun aber medial vermittelt über soziale Netzwerke. Von daher werden die klassischen Massenmedien und ihre Netzableger an Bedeutung verlieren. Das bedeutet nicht, dass sie ohne Bedeutung sind; dies zeigt sich konkret daran, dass z.B. in Videoplattformen ein Großteil der politisch bedeutsamen Clips auf Schnipsel aus den klassischen Massenmedien beruhen.

promedia: Welche Rolle werden für die Meinungsbildung künftig noch Kompetenz, Autorität, Glaubwürdigkeit, Sachlichkeit spielen, die heute für die Wirkung von Massenmedien von Bedeutung sind?
Gerhard Vowe: An der Attraktivität von Marken wie „Spiegel“, „FAZ“ oder „Tagesschau“ sehen Sie, wie wichtig diese Merkmale auch im Online-Bereich sind. Mit diesen Marken verknüpfen sich Erwartungen, die auf Erfahrungen beruhen. Das ist für die Orientierung im unübersichtlichen WWW von großer Bedeutung. Dagegen haben es neue Anbieter schwer. Hinzu kommt, dass mit der Bildung auch die Medienkompetenz stark zugenommen hat, so dass Medienangebote kritischer gesehen werden und Glaubwürdigkeit und Autorität stärker hinterfragt werden.

promedia: Es wird von einer immer größeren Bedeutung für die Meinungsbildung durch Social Media oder Blogs ausgegangen. Doch ist es wirklich so?
Gerhard Vowe: Politische Inhalte sind in sozialen Netzwerken wie facebook oder twitter kaum zu finden, und es wird dort vergleichsweise wenig über Politik diskutiert. Insofern tragen soziale Netzwerke nur wenig direkt zur politischen Meinungsbildung bei. Allerdings weisen sich die Nutzer sozialer Netzwerke zunehmend gegenseitig auf Beiträge oder Videos aus dem Online-Angebot klassischer Massenmedien hin. Insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene werden so durch soziale Netzwerke auf politische Themen und journalistische Beiträge aufmerksam. Insofern haben soziale Netzwerke eine wichtige Hinweis- und Lotsenfunktion und tragen indirekt zur Meinungsbildung bei. Und auch hier gilt es zu unterscheiden zwischen den Gruppen in der Bevölkerung – in den Jahrgängen mit einer intensiven Nutzung
von sozialen Netzwerken ist der Einfluss auf das Politikbild, die politischen Einstellungen und die politischen Verhaltensweisen schon deutlich.

promedia: Sie untersuchen in einem Forschungsprojekt die subjektive Seite des Wandels der politischen Kommunikation. Warum ist das so wichtig?
Gerhard Vowe: Mit der „subjektiven Seite“ ist gemeint, wie Menschen den Einfluss von Medien wahrnehmen. Da bereits Annahmen über den Einfluss von Medien Folgen haben, ist es wichtig, die subjektive Wahrnehmung zu erforschen. Zum Beispiel unterstützen Menschen verstärkt die Forderung nach stärkerer Regulierung von Medien, wenn sie glauben, dass Medien einen starken negativen Einfluss auf andere haben.

promedia: Bedeutet das, dass der Einfluss neuer digitaler Medien und Informationskanäle überschätzt wird?
Gerhard Vowe: Wie stark Menschen den Einfluss von Medien einschätzen, wurde bislang vor allem für klassische Medien wie Fernsehen oder Zeitungen untersucht. Darum ist es noch weitgehend Spekulation, welcher Einfluss Online-Medien unterstellt wird. In unserem aktuellen Forschungsprojekt untersuchen wir genau diese Fragestellung: Welcher Einfluss wird verschiedenen Online- Medien zugeschrieben und welche Folgen hat diese Wahrnehmung auf das Denken und Handeln der Menschen?

promedia: Welches sind erste Ergebnisse Ihrer Forschung?
Gerhard Vowe: Erste Befunde zeigen, dass Menschen den Einfluss von Online-Medien differenziert wahrnehmen. Dem Internet als Ganzes wird zum Beispiel ein deutlich stärkerer politischer Einfluss unterstellt als spezifischen Online-Angeboten wie twitter oder facebook. Insgesamt zeichnet sich ab, dass klassische Massenmedien immer noch als politisch einflussreicher eingeschätzt werden als beispielsweise soziale Netzwerke. Allerdings hat auch die Einflusswahrnehmung von Online-Medien Konsequenzen: Wenn Menschen beispielsweise glauben, dass das Internet einen starken negativen politischen Einfluss auf andere hat, verbreiten sie ihre eigene politische Meinung besonders intensiv über Online-Medien, um den unerwünschten Einfluss auszugleichen.

Über Prof. Dr. Gerhard Vowe

  • Geboren: 23.März 1953
  • 1971-1978 Studium der Politikwissenschaft, Informationswissenschaft, Publizistik und Geschichte
  • 1979 – 1987 Wissenschaftlicher Assistent, wissenschaftlicher Mitarbeiter
  • 1993 Vertretungsprofessur an der HdK Berlin
  • 1995-1996 Vertretungsprofessur an der TU Dresden
  • 1997-2004 Professor an der TU Ilmenau
  • Seit 2004 Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft Institut für Sozialwissenschaften in Düsseldorf

Artikel in der promedia Juli 2012

Weitere Informationen: promedia

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