Neue Vorfahrtsregeln im Internet?, promedia-Artikel von Rechtsanwalt Dr. Christoph Wagner

Jeder Nutzer des Internet kennt die Sanduhr, die erscheint, wenn der Computer-Bildschirm einfriert und erst einmal gar nichts passiert. Sie löst je nach Dauer erst ein Gefühl der Ohnmacht aus, dann Ärgern und schließlich entnervtes Hauen auf verschiedene Tasten in der Hoffnung, doch noch etwas bewegen zu können. Die Sanduhr als anachronistisches Symbol der Zeitmessung soll dann den Geduldsfaden vor dem zerreißen bewahren. In der Sanduhr werden alle Sandkörner von ihrer Schwerkraft getrieben nach dem Gleichheitsprinzip befördert, und dann durch die Verengung des Glases zum Ziel befördert. Jedes Sandkorn kommt zum Ziel, eine Sonderbehandlung einzelner Körner gibt es nicht.

Dr. Christoph Wagner
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Ebenso werden herkömmlich die Datenpakete im Internet befördert. Ohne Ansehen der Herkunft, des Inhaltes oder des Adressaten werden sie nach dem sogenannten Best-Efforts-Prinzip durch die Engstellen des Netzes „geroutet“. So haben alle Inhalte- und Diensteanbieter die gleiche Chance, ihr Ziel zu erreichen, egal ob es sich um Texte, Bewegtbilder, Tauschbörsen oder Echtzeitdienste wie Computerspiele oder IPTV-Fußballübertragungen handelt. Je mehr solcher datenintensiven Dienste angeboten werden, desto eher kann es zu Kapazitätsengpässen und Netzverstopfungen kommen. Die Nutzer werden häufiger mit der Sanduhr konfrontiert und werden sich zunehmend verärgert an ihre Zugangsanbieter wenden. Sie haben Flat-Rates mit eigentlich hohen Datenraten vereinbart und stellen fest, dass es jedenfalls zu bestimmten Zeiten nicht wesentlich schneller geht als zu alten ISDN-Zeiten. Anbieter und Nutzer wollen das nicht hinnehmen und verlangen Beschleunigung, ggf. auch Sonderbehandlung und Vorfahrtsregeln, um die Zeiten der Sanduhr-Starre zu verkürzen.

Dann stellt sich für den Zugangsanbieter die Frage, ob er Abhilfe schaffen kann. Die Netztechnik erlaubt es heute, die Datenpakete bestimmten Absendern zuzuordnen und auch die jeweiligen Dienste-Kategorien zu erkennen. Sie erlaubt auch ein Ausfiltern bestimmter Inhalte/Dienste oder eine Datenübertragung mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten („Dienste-Priorisierung“). So als ob in der Sanduhr die Körner vorsortiert werden und dann durch unterschiedlich breite Öffnungen ihren Bestimmungsort erreichen. Ein solches Datenverkehrs-Management beinhaltet Vorfahrtsregeln und Sonderspuren für bestimmte Inhalte und Dienste, bei deren Aufruf der Nutzer dann schneller bedient wird und keine Sanduhr-Wartezeiten hinnehmen muss. Alle übrigen Dienste verharren im Datenstau oder fahren permanent mit angezogener Handbremse.

Was technisch möglich ist und den Kundenwünschen entspricht, das wird auch umgesetzt werden, wenn es nicht untersagt wird. Ob und wie es geregelt werden soll, darum geht es beim Thema Netzneutralität. Neutral ist jemand, der nicht parteiisch ist und nicht mit den Inhalte- oder Diensteanbietern rechtlich oder ökonomisch verbunden ist. So etwa wie die meisten Unternehmen des Presse-Grosso, die alle Zeitschriften ohne Ansehen der Herkunft zu den Kiosken transportieren. Diese Neutralität wird als wichtige Errungenschaft für die freie und vielfältige Presse-Landschaft gepriesen. Mit der zunehmenden vertikalen Integration der Netzbetreiber und Zugangsanbieter, die zunehmend auch eigene Inhalte anbieten, kann aber anders als beim Presse-Grosso schon strukturell nicht von einer Neutralität des Netzes ausgegangen werden. Die Netzbetreiber haben handfeste eigene Interessen an der Verkehrsregelung, nämlich die eigenen Dienste und Inhalte zu fördern und die Angebote ihrer Wettbewerber zu behindern. Auch möchten sie natürlich die geringen Margen ihrer Transportdienste steigern, und sei es durch Mautstellen für Inhalte-Anbieter oder Sondertarife für höhere Geschwindigkeiten. Solche Verhaltensweisen sind im Wettbewerb grundsätzlich auch zulässig, jedenfalls wenn es sich nicht um marktbeherrschende Netzbetreiber handelt.

Beispiele für nicht „netzneutrale“ Verhaltensweisen gibt es inzwischen genügend, prominent etwa die Sperrung des Skype Dienstes durch T-mobil oder die Behinderung von unternehmenskritischer Foren durch Comcast. Während hier die Verfolgung von Eigeninteressen des Netzbetreibers offensichtlich ist, kann ein Datenverkehrs-Management durchaus im Allgemeininteresse der Nutzer liegen und dann eher „neutral“ erscheinen. Die nachteilige Behandlung der datenintensiven Tauschbörsen-Dienste durch Comcast etwa dient den Interessen aller anderen Nutzer, die weniger datenintensive Dienste dadurch schneller nutzen können. Für ein solches Abweichen von der Gleichbehandlung der Anbieter kann hier sogar die Gleichbehandung der Nutzer ins Feld geführt werden, die alle gleichrangigen Zugang zu einem Mindestmaß an Daten haben sollen und nicht durch einzelne „Heavy-User“ von Online-Games oder Tauschbörsen beeinträchtigt werden sollen. Dennoch hielt die US Aufsichtsbehörde FCC die Beschränkung von Tauschbörsen für unzulässig und Bürgerbegehren sahen darin den Sündenfall der Abkehr von einem neutralen Netz. Allerdings wurde die FCC-Intervention zunächst gerichtlich gestoppt, weil die Rechtsgrundlage nicht ausreichte. Ob die notwendigen Eingriffsmöglichkeiten geschaffen werden sollen, ist Gegenstand einer langjährigen Debatte in den USA, die nun auch in Deutschland intensiver geführt wird.

So wie die neue Netztechnik eine Verlangsamung von Diensten erlaubt, ermöglicht sie auch einen beschleunigten Transport etwa von solchen Diensten, die hierfür extra zahlen oder die mit dem Netzbetreiber verbunden sind. Bislang hat jeder Anbieter gleichrangig Zugang zum Netz, er muss nur entsprechende Server betreiben und einen Zugang unterhalten. Der reine Datentransport wird vom Anbieter selbst nicht bezahlt. Für ihn kommen die Netzbetreiber auf, die die Kosten auf ihre Kunden umlegen. Weil sich hier das Geschäftsmodell der Flat-Rates durchgesetzt hat, sind die Margen der Netzbetreiber kleiner geworden und damit der Wunsch nach zusätzlichen Finanzierungsquellen entstanden. Wie im Kabelnetz könnte sich dadurch bald ein sog. zweiseitiger Markt ergeben, das heißt die Netzbetreiber kassieren nicht nur von den Endkunden, sondern auch von den Anbietern, die auf eine Sonderbehandlung ihrer Daten wert legen. So könnte ein bevorrechtigter oder besonders sicherer Transport (Quality of Service oder Premiumdienst) gegen entsprechende Vergütung garantiert werden.

Es gibt also drei Grund-Muster für Abweichungen von der Netzneutralität: Erstens die Sperrung oder Behinderung bestimmter konkurrierender Dienste oder nachteiliger Inhalte durch den Netzbetreiber, die offensichtlich problematisch und meist schon nach geltendem Recht unzulässig sein dürfte; zweitens die Bevorzugung bestimmter Dienste, die mit dem Netzbetreiber verbunden sind oder dafür extra an den Netzbetreiber zahlen und drittens die Behinderung oder Bevorzugung bestimmter datenintensiver Dienste oder Angebote mit dem Ziel eines „neutralen“ Datenverkehrsmanagements im Interesse der Vermeidung von Engpässen.

Vor der Betrachtung dieser Fall-Gruppen steht die Ausgangsfrage, ob eine Abweichung von der Gleichbehandlung aller Angebote und Inhalte überhaupt akzeptabel ist. Das Internet ist inzwischen auch Medium und Faktor der öffentlichen Meinungsbildung und zugleich zentral für die Informationsfreiheit. Demgegenüber steht die Eigentumsgarantie der Netzbetreiber, mit ihrem Netz nach eigenem Belieben zu verfahren. Gesetzliche Eingriffe in diese Freiheiten sind fraglos immer rechtfertigungsbedürftig. Hier stellt sich konkret die Frage, ob die Netzneutralität zum Schutz der Kommunikationsgrundrechte im Internet staatlich gewährleistet werden muss. In diesem Fall dürfte wie etwa bei den Must-Carry Regelungen im Kabel die Sozialbindung des Netzeigentums entsprechend verhältnismäßige Einschränkungen zulassen.

Hier ist zunächst wichtig, dass eine ausnahmslose Gleichbehandlung aller Daten im Netz grundrechtlich nicht verbürgt ist. Schon begrifflich ist Netzneutralität nicht mit dem Gleichbehandlungsgebot für alle Daten im Netz zu verwechseln. Eine grundrechtskonforme Kommunikationsordnung lässt sich auch bei gewissen Priorisierungen von Inhalten aufrechterhalten, vorausgesetzt jeder Anbieter hat grundsätzlich Zugang zu jedem Nutzer und umgekehrt. Ob es schon grundrechtswidrig ist, hinsichtlich der Transport-Geschwindigkeiten einzelner Dienste oder Inhalte zu differenzieren, darf bezweifelt werden, jedenfalls wenn der Zugang zum Nutzer in akzeptabler Qualität und Geschwindigkeit möglich bleibt. Ein striktes Gleichbehandlungsgebot für den Transport anderer Medienangebote ist auch nicht anerkannt. Der Must-Carry-Ansatz im Kabel geht zwar in diese Richtung, steht aber längst nicht allen Anbietern offen und auch die Must-Carry Kabelkanäle unterscheiden sich nach Qualität und Reichweite. Kleine Anbieter oder Newcomer haben in der Regel keinen Must-Carry Status.

Im Bereich der Presse gibt es mit dem Presse-Grosso ein weitgehend anbieterneutrales Vertriebssystem, das allen Anbietern offen steht und den Transport auch von auflagenschwachen Printprodukten zu allen Zeitschriftenkiosken sicherstellt. Das ist im Sinne der Pressefreiheit und Pressevielfalt hoch erfreulich und sicher auch ausreichend, um die Freistellung von den sonst üblichen Vertriebs-Kartellverboten zu rechtfertigen. Aber das Presse Grosso ist nicht das allein zulässige Vertriebsmodell für Presse-Erzeugnisse. Auch der Alleinvertrieb durch Verlage ist zulässig und jüngst offenbar wieder in Mode gekommen. Außerdem beruht die Neutralität des Pressevertriebs nicht auf gesetzlichen Anordnungen, sondern ist vielmehr Ergebnis einer gelungenen Selbstorganisation aller interessierten Verlage und Vertriebspartner. Das Presse-Grosso lässt sich daher nicht als Kronzeuge für eine staatlich verordnete Netzneutralität im Internet herhalten. Eher lässt sich daraus ein Appell an Netzbetreiber und Zugangsanbieter zur Vereinbarung eines Code of Conduct herleiten, ein neutrales und diskriminierungsfreies Vertriebssystem zu vereinbaren. Die staatliche Regulierung könnte dies ähnlich wie im Pressewesen durch entsprechende Lockerungen des Vertriebskartellrechts flankieren, die im Interesse der Grundrechtssicherung zu rechtfertigen wären.

Abgesehen von dem Vorpreschen der FCC im Comcast-Fall verhalten sich die Regulierer eher abwartend. Die EU Kommission und die Ofcom haben kürzlich entsprechende Konsultationen durchgeführt, die ein komplexes Bild unterschiedlicher Interessen und Lösungsansätze widerspiegeln. Eine Gefahr im Verzug für staatliches Handeln wird daraus jedenfalls für den nüchternen Betrachter nicht erkennbar. Die Befürworter einer staatlichen Intervention argumentieren oft sozialpolitisch fundamental mit der Freiheit und Offenheit des Netzes, die durch Vorfahrtsregeln für Stärkere zu einer Zweiklassengesellschaft werden könnte und die Kommunikationsgrundrechte der Schwächeren beschneiden könnte. Das ist ernst zu nehmen, allerdings wird hier leicht vergessen, dass ein großer Teil der Bevölkerung nach wie vor keinen Breitband-Zugang zum Internet hat, weil es in ländlichen Gebieten keine DSL-Anbindungen gibt. Wenn es hier um wirklich sozialpolitisch fundamentale Fragen ginge, hätte sich der Staat vielleicht intensiver um eine flächendeckende Breitbandversorgung bemühen müssen?

Die Netzneutralitäts-Fundis übersehen auch, dass der Bedarf nach Differenzierungen von Diensten im Rahmen eines Datenverkehrs-Managements jedenfalls auch mit der egalisierenden Wirkung der Flat-Rates auf Nutzerseite zusammenhängt. Anerkanntermaßen werden große Mengen des Daten-Verkehrs durch wenige „Heavy User“ verursacht, die über die Flat-Rates stark begünstigt werden. Es gibt daher nutzerseitig kein Korrektiv mehr, das einen schonenden Umgang mit knappen Netzressourcen nahe legen würde. Dies verleitet zum übermäßigen Datensammeln auf Giga-Festplatten, auch wenn niemand die gespeicherten Daten sinnvoll aufnehmen oder verarbeiten kann. Mit vernünftigen Obergrenzen für Flat-Rates und Zusatzgebühren für exzessiven Datenverkehr würde wohl einiges an Netzkapazität frei werden, so dass sich eine Dienste-Priorisierung weitgehend erübrigen könnte. Auch die Flat-Rates wurden allerdings als große Errungenschaft des Netzes gefeiert, und ihre Abschaffung wäre sicher höchst unpopulär. Man möchte ja auch seine Internet-Radio Stationen aus New York oder Buenos Aires nicht mehr missen, die aufwendig über Glasfaser-Leitungen durch den Atlantik zu uns gestreamt werden.

Aus Netzbetreiber-Sicht wäre ein Daten-Verkehrsmanagement und das Erschließen neuer Einkommensquellen auf Anbieterseite wohl leichter umzusetzen als eine Einschränkung der Flat-Rates. Die Netzbetreiber versuchen auch nicht ungeschickt, Konzerne wie Google für den von ihnen generierten Datenverkehr in die Pflicht zu nehmen. Youtube etwa soll ca. 25% des gesamten Datenverkehrs in den USA verursachen, warum also soll man sie dafür nicht zur Kasse bitten? Es ist sicher zutreffend, dass Google & Co von der Netzneutralität und der nutzerseitigen Finanzierung des Transports ihrer Dienste stark profitieren. Darauf bauen die Gratis-Geschäftsmodelle auf, die sich über Werbeeinnahmen refinanzieren. Demgegenüber müssen werbefinanzierte Fernseh- und Radioveranstalter den Transport ihrer Inhalte über herkömmliche Verbreitungswege selbst finanzieren, ebenso wie die Zeitschriftenverlage.

Eine solche Umkehrung des Transport-Finanzierungsmodells könnte zweifellos auch zur Reduzierung der Datenverkehrsmengen beitragen, allerdings auch zu einer drastischen Reduzierung der Netzvielfalt, die sicher nicht im Interesse der Nutzer oder der Medienregulierung wäre. Im Zweifel wären Einspeise-Entgelte für Inhalte-Anbieter nur gegenüber den kleinen Anbietern durchsetzbar auf die Nutzer im Zweifel auch verzichten würden. Dazu gehört Google gerade nicht. Überleben würden nur wenige Große, die den Internet-Transport ihrer Inhalte bezahlen können, aber mit Sicherheit nicht die Radio-Stationen aus Übersee. Sehr realistisch ist ein solches Szenario derzeit glücklicherweise nicht. Schon eher denkbar sind Geschwindigkeitsvorteile und „Quality of Service“ Garantien für einzelne Anbieter, die dafür Entgelte entrichten, während die übrigen Inhalte nur im Normal-Tempo kommen und ggf. Wartezeiten in Kauf nehmen müssen. Auch das ist mit Blick auf die Zugangsoffenheit des Netzes und die Vielfaltsicherung nicht unproblematisch. Auch wenn marktbeherrschende Netzbetreiber Sonderspuren für ihre eigenen Inhalte-Angebote bauen wie z.B. beim IPTV, kann dies an den Engstellen des Netzes zu lasten anderer Dienste gehen. Bei der Beurteilung, ob so etwas zulässig ist, kommt es immer darauf an, wie groß der noch „freie“ und neutral bewirtschaftete Teil der Netzkapazitäten eines Betreibers bleibt. Eine Aufteilung der Netzkapazitäten eines Betreibers wie im Rahmen der Plattformregulierung des Rundfunkstaatsvertrages, nach der nur ein Drittel zu freien Verfügung des Plattformbetreibers steht, könnte hier als Vorbild dienen. Daten-Verkehrsmanagement und Priorisierungen wären dann nur in einem Teil der verfügbaren Kapazitäten zulässig, für den Rest würde weiter das Best-Efforts-Prinzip gelten. Die Dienstequalität außerhalb der Sonderspuren und anbieterseitig bezahlten Premium-Dienste dürfte ein garantiertes Mindestmaß nicht unterschreiten.

Obwohl die Bundesregierung sich nach der Koalitionsvereinbarung für die Gewährleitung der Netzneutralität einsetzen wollte, ist sie in dieser Hinsicht lange gar nicht aktiv geworden. Erst der jüngst vorgelegte Referentenentwurf für die TKG-Novelle greift das Thema auf, allerdings nur in der Entwurfsbegründung, die Netzneutralität als politisches Ziel der Regulierung identifiziert. Danach sollen Endnutzer in die Lage versetzt werden, „Informationen abzurufen und zu verbreiten sowie beliebige Anwendungen und Dienste zu benutzen.“ Daraus könnte man mit einigem Wohlwollen die Vorgabe eines „neutral“ bewirtschafteten Kapazitätsteils ableiten. Ohne jede Quantifizierung bleibt dies aber zu vage. Deutlich wird jedenfalls, dass eine Gleichbehandlung im Datenverkehr nicht ausnahmslos erfolgen muss, sondern nur eine Art Grundversorgung an Netzneutralität gesichert werden soll.

Erkennbar geht der TKG-Entwurf davon aus, dass sich eine solche Grundversorgung mit Netzneutralität wirkungsvoll auch durch Verbraucherinformation und Transparenz im Wettbewerb der Netzanbieter schützen lässt. Nach entsprechender Information schon vor Vertragsschluss soll der Verbraucher einen Anbieter wählen können, der nach den Grundsätzen der Netzneutralität verfährt. Insbesondere muss informiert werden über alle vom Netzbetreiber zur Messung und Kontrolle des Datenverkehrs eingerichtete Verfahren, um eine Kapazitätsauslastung oder Überlastung einer Netzverbindung zu vermeiden (Netzwerkmanagementtechniken), und Informationen über die möglichen Auswirkungen dieser Verfahren auf die Dienstequalität sowie alle vom Anbieter auferlegten Beschränkungen für die Nutzung der von ihm zur Verfügung gestellten Endeinrichtungen. Bei nachträglichen Änderungen soll den Nutzern ein Wechsel zu anderen Netzbetreibern erleichtert werden.

Schließlich räumt der Entwurf der Bundesnetzagentur die Möglichkeit ein, Mindestanforderungen an die Dienstequalität zu definieren. Damit soll eine Verschlechterung von Diensten und eine Behinderung oder eine Verlangsamung des Datenverkehrs außerhalb von Premium-Diensten verhindert werden. Das garantiert sicher keine Gleichbehandlung im Datenverkehr, verhindert aber en eine unzumutbare Absenkung des Best-Effort-Standards, wenn immer mehr Quality-of-Service-Dienste eingeführt werden.

Die Protagonisten der Netzneutralität werden von dem Entwurf sicher enttäuscht sein, weil er implizit die Daten-Gleichheit im Netz aufgibt und im übrigen nicht viel mehr als Transparenzregeln und Lippenbekenntnisse zur Netzneutralität enthält. Andererseits ist ein praktischer Regelungsbedarf noch nicht klar erkennbar und auch andernorts noch nicht adressiert worden. Das sachte Vortasten des Gesetzgebers gibt der Industrie auch die Chance, zunächst nach einem Selbstregulierungsmodell zu suchen, das neutrale Datenverkehrsregeln aufstellt, nennenswerte Netzkapazitäten weiter dem offenen Best-Efforts-Prinzip vorbehält und vor allem: ohne staatliche Intervention auskommt. Das sollte jetzt im Vordergrund der Überlegungen stehen.

Autor: Dr. Christoph Wagner, Rechtsanwalt

Über Dr. Christoph Wagner

  • Studium der Rechtswissenschaften
  • Seit 1991 Rechtsanwalt und seit 2000 Notar
  • Von 1991 bis 1995 als Anwalt tätig und von 1996 bis 2000 als Partner bei Oppenhoff & Rädler
  • 2001 – 2010 Partner im Berliner Büro der Sozietät Hogan & Hartson Raue
  • Von 2002 – 2007 (Ersatz-) Mitglied der Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich
  • Seit 2010 Partner der Kanzlei Hogan Lovells
  • Seit 2010 Lehrbeauftragter für Europäisches Medienrecht an der Universität Potsdam

Weitere Informationen: promedia

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