Das Faktische hat die Macht ergriffen. Sebastian Turner, Partner der Werbeagentur Scholz & Friends, im Gespräch mit promedia

„Das Netz hat bisher überwiegend mehr Schwarmdummheit als -Intelligenz hervorgebracht“

„Chefredakteure müssen unternehmerisch denken. Die Kreativen müssen in den Verlagen die Macht übernehmen.“ Das sagte Sebastian Turner  bei der Chefredakteurskonferenz des BDZV. „Wir stehen in einer Umbruchsituation wie vor 500 Jahren bei der Erfindung des Buchdrucks“, erläuterte der Werbeexperte. Damals habe sich die Individualkommunikation zur Massenkommunikation gewandelt. Heute stehe die Gesellschaft – und mit ihr die Medien – am Anfang der „Massen-Individual-Kommunikation“. Damit gelte es, auch ganz neue Wege der Ansprache für die Leser/Nutzer der Zeitung zu finden.

Sebastian Turner
Sebastian Turner

promedia: Herr Turner, Sie haben jüngst gesagt: „Wir stehen in einer Umbruchsituation wie vor 500 Jahren bei der Erfindung des Buchdrucks“. Wo vollziehen sich diese Umbrüche vor allem?
Sebastian Turner:
Die Veränderungen vollziehen sich in der Beziehung zwischen Publikum und Medium. Wenn diese Beziehung sich neu ordnet, ordnet sich alles andere ebenfalls neu.

promedia: Welche Schlussfolgerungen müssten daraus die Zeitungsverleger für ihre Produkte eigentlich ableiten?
Sebastian Turner: Nahezu alle Gewissheiten müssen überprüft werden. Sind es wirklich Gewissheiten oder nur Gewohnheiten, die sich durch die technischen Bedingungen herausgebildet haben und sich mit ihnen ändern werden?promedia: Sie fordern sogar, dass die Kreativen in den Verlagen die Macht übernehmen müssen.    Was können sie bewirken gegen die Macht des Faktischen, gegen wirtschaftliche Fakten?
Sebastian Turner: Das Faktische hat die Macht ergriffen – das ist ja die Chance. Die gedruckten Auflagen sinken nahezu überall, die Anzeigenerlöse erodieren, bestimmte Anzeigentypen sind in Auflösjung, junge Menschen haben schon papierlose, interaktive Gewohnheiten herausgebildet und empfinden eine gedruckte Zeitung als merkwürdige Antiquität. Sie schenken ihre Zeit immer mehr anderen Informationsformen. Die Fakten sind denkbar eindeutig: Die Zeitungen sind sinkende Schiffe, wenn sie sich nicht neu erfinden. Neu erfinden heißt: Die Chancenergreifer übernehmen die Macht von den Risikovermeidern.
Kreative gehören übrigens immer an die Macht, wenn sie einen Status quo nicht nur konservieren wollen, sondern neues Wachstum suchen. Dass sich die Journalisten nicht von allein für zuständig erklären in den Verlagshäusern ist eine schwer erklärbare Unterlassungssünde.

promedia: Andererseits sollen nach Ihrer Meinung die Chefredakteure wirtschaftlicher denken. Ist das nicht ein Widerspruch?
Sebastian Turner:
Überhaupt nicht. Es gibt das Argument, dass die Redaktion unabhängig sein soll von wirtschaftlichen Einflussnahmen. Dieses Argument halte ich für goldrichtig, es ist die Grundlage von Vertrauen und Qualität. Dieses Argument haben viele Journalisten so umgedeutet, dass sie auch unabhängig sein sollten von wirtschaftlichen Zusammenhängen und unternehmerischem Denken. Diese Deutung  finde ich nicht überzeugend und inmitten eines Systemwechsels, wie wir ihn erleben, ist es eine autistische Selbstabmeldung, diesen Wechsel zu gestalten.

promedia: Seit mehr als zehn Jahren wird der baldige Tod der gedruckten Zeitung vorausgesagt. Für eine Totgesagte ist sie aber noch sehr lebendig. Liegt das nur daran, dass sich die Mediennutzung sehr langsam ändert, wie man oft liest?
Sebastian Turner: Die Zeitungen werden schon länger als zehn Jahre für tot erklärt, bevorzugt und regelmäßig von ihren eigenen Verlegern immer dann, wenn neue Techniken ihre Monopole infrage stellen. Damit wurde beispielsweise versucht, sich Lokalradio und Privatfernsehen zuteilen zu lassen wie einst Zeitungslizenzen von den Alliierten. Beim Internet ist dieses Lamento allerdings ohne Resonanzraum – hier wird die Veränderung nicht von Staatsverträgen und Medienkommissionen, sondern von den Märkten vorangetrieben. Die früher neuen Medientypen wie Radio und Fernsehen haben die Grundfunktion der Zeitung nicht antasten können – frei nach dem rieplschen Gesetz. Die Möglichkeit des Internets, praktisch ohne Transaktionskosten die Beziehung zwischen Publikum und Medien neu zu bestimmen, ist dagegen für Zeitungen existenzbedrohend. Die Bedrohung liegt nicht darin, dass jedes Jahr ein halbes Prozent Reichweite verloren geht, sondern in dem Geschäftsmodell, ein Publikum um Inhalte zu scharen, um diese dann Wehrbekunden anzubieten. Das  Internet hat diese Verknüpfung gesprengt.  Der erste schwere Treffer hat die rubrizierten Anzeigenmärkte böse zerzaust und als nächstes ist möglicherweise das ökonomische Herz der Zeitungswerbung betroffen – die Handelswerbung. Wenn Aldi über die Zeitungen nicht mehr die deutsche Hausfrau zu erreichen glaubt, dann wird die schleichende wirtschaftliche Erosion immer wieder von Erdrutschen unterbrochen.

promedia: Welche Rolle kann die Zeitung in dieser Umbruchsituation spielen?
Sebastian Turner: Sie muss sich bei jedem Aspekt fragen, was ist Gewohnheit und was ist Gewissheit. Und dann die Gewohnheiten infrage stellen. Ein Passauer Teenager führt die dortige Presse beim Lokalsport mit einem Internetangebot vor. In Heddesheim schlägt ein Einzelkämpfer die Lokalausgabe des “Mannheimer Morgen” morgens, mittags und abends.

promedia: Die Zeitungen setzen mehr auf Hintergrundberichte, Meinungen und Erläuterungen. Nimmt damit nicht die Bedeutung im Vergleich zum aktuell geprägten Internet sogar zu?
Sebastian Turner: Das wäre wünschenswert. Meine Vermutung ist allerdings, dass es mit linearen Verbesserungen nicht getan ist. Mehr vom Erprobten reicht nicht, es müssen ganz neue Formen gefunden werden.

promedia: Wie meinungsbildend können Zeitungen heute im Vergleich zum Internet noch sein?
Sebastian Turner: Bei der Meinungsbildung haben sie heute noch die Nase vorne, weil sie noch die kompetenteren Köpfe haben. Das Netz hat bisher – mit wenigen Ausnahmen – mehr Schwarmdummheit als -Intelligenz hervorgebracht. Es ist aber nur eine frage der Zeit, bis die Zeitreichen-Ahnunglosen im Netz verdrängt werden von den Zeitarmen-Kenntnisreichen.

promedia: Können sich zumindest einige überregionale Titel noch länger als  Leitmedien behaupten? Oder werden sie zunehmend zu Nischenmedien?
Sebastian Turner: Für lokale und bundesweite Medien gelten fundamental andere Spielregeln und ein Teil der Lösung kann darin liegen, die jeweilige Stärken neu zu erfinden. Die Lokalzeitung holt ihre Alleinstellung aus dem Lokalen, nicht aus dem Mantel. Was weiß der “Schwarzwälder Bote” Besonderes über Tunesien und über die Wallstreet? Nichts. Aber er muss alles wissen über Nagold, Rohrdorf, Ebhausen und Altensteig. Und das ist nur ein Tal im Verbreitungsgebiet.

promedia: In den letzten 20 Jahren sind zahlreiche Onlinemarken entstanden die über eine weltweite Bekanntheit und auch Kompetenz verfügen. Wie wertvoll sind dagegen die alten Zeitungsmarken?
Sebastian Turner: Sie stehen leider meist für einen verschenkten Vorsprung in Rubrikmärkten und müssen höllisch aufpassen, dass sie nicht auch für einen verschenkten Vorsprung bei den lokalen Inhalten stehen.

promedia: Bei der Bewertung der Zeitungen wird vor allem ihre hohe Glaubwürdigkeit im Vergleich zu anderen Medien betont. Ist das aber für die jüngere Generation noch entscheidend? Zählt hier Authentizität nicht mehr als Glaubwürdigkeit?
Sebastian Turner: Die Eigenschaften schließen sich nicht aus, man kann authentisch und glaubwürdig sein. Ich denke, dass die entscheidenden Kriterien Relevanz und Involvierung sind. Das sind geborene Stärken von Lokalmedien, wenn sie nicht so langweilig-statisch sind, wie sie oft ohne Not sind.

promedia: Rettet der Tablet PC die Zeitungen?
Sebastian Turner: Wenn ja, dann nein. Wenn die Tablet-PCs der wichtigste Vertriebskanal für lokale Tagesinformation werden sollten, dann ist das auch ein Einfallstor für neue Anbieter, die aus Zeitungsroutinen schneller ausbrechen als die bestandsbewahrenden Zeitungsbesatzungen von heute. Die preislistenbesoffenen Anzeigenverkäufer sind eben nicht auf das heute so naheliegend erscheinende Google-Werbeversteigern gekommen – das heute Milliardengewinne einspielt. Der erfolgreichste Musikvertrieb wurde nicht von einem großen Label, sondern von einem Computernerd etabliert. Es ist Zeit für die Kreativen, ganz gleich wo sie herkommen.

Sebastian Turner,  Partner der Werbeagentur Scholz & Friends, Berlin

Weitere Informationen: promedia

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